Die Reisen der Sea-Witch: Log 0, Calypso of the EyeIn jedem Hafen sind wohl neben den zu Hauf vertretenen Speakeasys, Smokey-Dens und Flowerhouses auch Etablissements zu finden, die aus dieser halbseidenen Masse herausragen[i]. So ist wohl jedem Reisenden der „Rising Moon“ in Arabesque, „Ye Olde Inn“ in Springhall oder der „Bangerman“ in Topaz bekannt. Jedermann kennt ihre Geschichte und hat, wenn man selbst auch noch nicht dort war, doch viele Bekannte, die zumindest behaupten schon einmal so glücklich gewesen zu sein. Und an einem solchen Ort, in „Patch’s Coffeehouse“, beginnt in gewisser Weise auch die Reise des Riggers Seawitch. Selbst wenn man es noch nie besucht hat, so kann man doch vom Hafen aus das Coffehouse mit einem Boot leicht finden, wohingegen man sich zu Fuß wohl schwer tun würde. Am besten pullt man vom Kai aus flussaufwärts an dem direkt an die Docks angrenzenden Vergnügungsviertel vorbei, bis man jenen Seitenkanal des Oneiros erreicht, der die Demarkationslinie zum ehrbaren Stadtteil der Handwerker und Kaufleute bildet. Auch des Nachts ist er kaum zu verfehlen, da über ihm allzeit heftige olfaktorische Schlachten zwischen Parfüm, Beize, gegerbtem Leder, Weinschwaden und anderen, suspekteren Gerüchen geschlagen werden. Er bildet jene Grenze zwischen Bourgeoisie und Boheme, die Flüche und Küsse leicht, der Geist aber nur schwer überqueren zu können scheint. Folgt man seinem Verlauf, so sieht man, wie nach einer Weile die Häuser auf beiden Seiten des Kanals älter und mondäner werden. Auf halber Strecke zwischen den Docks und den Hügeln der Oberstadt wird man inmitten dessen, was in Arabesque als Altstadt bezeichnet wird, an eine Stelle im Hauptkanal kommen, an der ein kleiner Seitenarm zwischen zwei anmutig geschwungenen Brücken in Richtung Oberstadt abzweigt. Dort wird man ein altes Herrenhaus bemerken, das sich weit zwischen den Brücken nach vorne ins Wasser gedrängt hat. Zwar fußt das Haus gerade noch auf der verrufenen Seite des Kanals, ragt aber doch schon so weit in seinen Lauf hinaus, das ihm der Sprung zum ehrbaren Ufer schon fast gelungen zu sein scheint. Trifft man so etwa gegen 6 glass[iii] dort ein, so wird man vielleicht sogar die Besitzerin selbst antreffen, wie sie ihr Lokal eröffnet und einige Mägde überwacht, welche bei schönem Wetter die Tische auf dem Balkon des Hauses zur Kanalseite hin decken. Und wenn dem so ist, so erkennt man sie auf den ersten Blick. Calypso, die ehemalige Segelmeisterin der „Pride of Blue“[iv], jetzt als Eignerin eines Coffeehouses zeitweilig gestrandet, ist mit ihren kurz geschnitten Haaren die ihr wie eine Kappe eng am Kopfe anliegen, dem sonnenbebräunten Teint und nicht zuletzt der sinister wirkenden Augenklappe in einer Horde von ansässigen Lander-Frauen genauso unübersehbar wie einen Seeadler in einem Pelikanschwarm. Sie hatte es innerhalb der wenigen Jahre, in denen sie Patch’s Coffeehouse nun besaß, verstanden, diesem Lokal einen Flair zu verleihen, der aus einer abenteuerlichen Mischung maroder Eleganz und romantischer Verrufenheit bestand. Die exorbitanten Preise hielten den Bodensatz der Gesellschaft fern, aber die gebotenen exquisiten Getränke und Dienstleistungen lockten einen zahlungskräftigen Kundenkreis an. So kam es, dass das Coffeehouse in der Stadt schnell als ein Ort bekannt wurde, wo sich Unter- und Oberschicht, Geld und Kunst, Mittelmaß und Überschwang bei edlem Trunk und in gediegenem Ambiente beschnuppern konnten - ohne Radau oder neugierige Nasen befürchten zu müssen. Nicht nur Künstler jeglicher Fasson samt zugehöriger Mäzene, Gimpel, Gewerbetreibende und anderes kunstsinniges Volk gehörten zum Klientel, sondern auch Kaufherren, Warden, abenteuerlustige Genteel, der ein oder andere Veiled und natürlich Farer.Auch Calypsos bekanntermaßen grauenhaft trockener selbstgemachter Rührkuchen, der mit geradezu rührender Impertinenz auf ihrer ansonsten gediegenen Speiskarte auftauchte, konnte mit seiner herben Einzigartigkeit dem Ruf des Lokals nicht wirklich schaden und stellte eher einen gut platzierten Kontrapunkt dar, denn eine Dissonanz. Um die wenigen dennoch laut werdenden Stimmen kulinarischer Kleingeister, Störenfriede und Moralapostel kümmerte sich ihre Teilhaberin[v] Janine. Der bloße Anblick der ehemaligen Bosun[vi] der „Pride of Blue“, die den allgemeinen Trend der holden Weiblichkeit hin zu Kleidern und Dufwässerchen standhaft verweigerte und immer noch in Hemd und Hose und mit geteertem schwarzen Zopf wie auf einem Schiffsdeck einherging, schien auf Streitsüchtige wie Betrunkene eine gleichermaßen beruhigende Wirkung zu haben. Ob hierfür nun ihre enormen Muskelpakete oder ihre anderen, weiblicheren Qualitäten die Ursache waren, ist nie ganz geklärt worden. Tatsache jedoch ist, dass sie es nur in den seltensten Fällen nötig hatte, einen Unruhestifter tatsächlich achteraus im Kanal zu entsorgen, wenn sie sich erst einmal vor ihm aufgebaut hatte. Nur wenige, meist ziemlich kurzsichtige Radaubrüder, waren jemals tatsächlich mit „Twinpeaks“, wie sie im Viertel allseits genannt wurde, handgemein geworden – und hatten es meist sofort bereut. Wie dem auch sei, an jenem Nachmittag als unsere Geschichte mit dem Eintritt eines elegant gekleideten Herrn in das Lokal ihren Anfang nimmt, waren auf Grund der frühen Stunde noch keine anderen Gäste anwesend. Calypso, die den ersten Kunden des Tages persönlich begrüßte, ordnete den Neuankömmling sofort der neureichen Oberschicht zu, ohne zu wissen, wie recht sie damit hatte. Sein Anzug war ein nach der neusten Mode geschneidertes flaschengrünes Doublet mit passenden Pantalons, die nachlässig in die kniehohen Forester-Stiefel gestopft waren. Dazu ein weit schwingendes Cape, Gehstock mit Silberknauf, vergoldeter Stinger und ein Federbarret - ein Gimpel wie er im Buche stand. Nur die Tatsache, dass er einen eingetopften Farn mit sich herumtrug, war etwas ungewöhnlich. „Mit was kann unser Haus Ihnen dienen, Mesire?“ „Für’s erste wohl mit einem Kännchen gybalischen Cacao, Medame Calypso – wenn ich mich nicht irre?“ Eine Frage, welche die ehemalige Segelmeisterin mit einem galanten Augenaufschlag beantwortete, den auch eine Dame von nobler Geburt nicht nonchalanter hätte exerzieren können. „Sodann einen Krug nicht zu kalten Wassers für Wilbur ...“ - womit er offensichtlich seinen Farn meinte, den er auf dem Tisch abstellte – „... und Jambalaya natürlich!“ „Wollt Ihr nicht vorher ablegen, Mesire?“ erkundigte sie sich, wobei sich zum wiederholten Male fragte, warum die Leute nicht in ein Wirtshaus gehen konnten, wenn sie eigentlich nur Eintopf essen wollten? „Ihr könnt mir Euer Cape getrost zur Aufbewahrung geben ...“ jetzt würde sie wieder den Laufjungen zum Gibbet-Tor[vii] schicken müssen. „ ... wir garantieren für das Eigentum unserer Gäste.“ „Oh lasst nur, ich behalte ihn immer bei mir“, antwortete er und hängte das Cape zusammengefaltet über den Nachbarstuhl. „Er wird immer etwas unruhig wenn ich ihn zu lange alleine lasse und könnte die Garderobe Eurer anderen Gäste anknabbern – und das Risiko wollen wir doch nicht eingehen, oder?“ fragte er sie mit einem Augenzwinkern. Auch das noch, dachte sich bei sich: ein Komiker. „Natürlich nicht, Mesire.“ antwortete sie, und ließ sich damit auf seine Gesprächslinie ein: „Kann ich Eurem Mantel vielleicht auch etwas bringen?“ „Ihr habt nicht zufällig ein rohes Steak?“ Die Konversation schien ihm sichtlich Vergnügen zu bereiten. Nun, der Kunde ist Kaiser, dachte sie sich. „Wir sind ein Coffeehouse, Mesire.“ erwiderte sie mit gespieltem Entsetzen, fügte jedoch sogleich mit verschwörerischer Mine hinzu: „Aber ich könnte natürlich etwas besorgen, wenn ihr mir versprecht, dass er über gute Tischmanieren verfügt. Wir müssen Rücksicht auf die anderen Gäste nehmen – ihr versteht.“ „Selbstverständlich, Medame! Aber ich glaube wir wollen unter diesen Umständen dann doch von etwas Essbarem für ihn absehen.“ und mit verschwörerischer Mine fügte er hinzu: „Der Geruch frischen Blutes erweckt immer das Tier in ihm, wisst Ihr.“ „Wie ihr wünscht, Mesire. Einen gybalischen Cacao für den Herrn,“ – widerliches Zeug[viii] – „einen Krug Wasser für den Farn“ – was würde dem Gimpel denn noch einfallen – „und kein rohes Steak für den Mantel.“ – extra berechnet, versteht sich – „Sehr wohl.“ Mit einer Verbeugung nahm Calypso die Bestellung entgegen und verschwand, nur um wie durch Zauberei fast sofort wieder mit einem Silbertablett zu erscheinen. „Wisst ihr Medame, Euer Coffeehouse entspricht voll und ganz dem, was mir von ihm berichtet wurde.“ sagte er als sie das Tablett vor ihm abstellte, auf dem sich ein „So? Ich hoffe, man hat Euch nur gutes von unserem Hause berichtet, Mesire.“ antwortete sie, „Wir sind stets bemüht, alle Kundenwünsche zur vollsten Zufriedenheit zu erfüllen.“ „Nun, um ehrlich zu sein, hätte ich vielleicht eher sagen sollen: ‚Ihr selbst entsprecht dem was man mir berichtet hat.’“ Und misstrauisch an seiner Tasse schnüffelnd fügte er hinzu: „Was aber diesen Cacao betrifft habe ich meine Zweifel.“ Mit hochgezogener Augenbraue fragte sie: „Wie darf ich das verstehen, Mesire?“ „Nun – das Zeug kann doch keiner trinken.“ „Mesire – dies ist echter gybalischer Cacao! Wir hatten längere Zeit einen gybalischen Handelsherren zu Gast, der ganz begeistert davon war. Seitdem haben wir einen kleinen Vorrat.“ „Aber er hat auch nur daran gerochen – stimmt’s?“ „Richtig!“ – Nanu? – „Woher habt Ihr das gewusst?“ „Es hat ihn vermutlich an seine Heimat erinnert – und warum er sie verlassen hat. Solche Erinnerungen sind manchmal sehr wichtig, wisst Ihr.“ „Da mögt Ihr recht haben.“ „Und außerdem kenne ich ihn.“ Nachdenklich kippte der Gast den Tasseninhalt aus dem Fenster in den Kanal. „Wenn ich ihn wiedersehe, werde ich mal ein ernstes Wörtchen mit ihm reden, denke ich.“ Aha, dachte Calypso so bei sich, das erklärt zumindest diese geschmackliche Entgleisung. Vielleicht war ihr neuer Kunde doch kein solch bornierter Schnösel wie sie zuerst gedacht hatte. „Habt Ihr momentan viel zu tun?“ fragte er, und schaute sich im Gastraum um, der wie immer zu dieser Tageszeit nur mäßig gefüllt war. „Nein, eigentlich nicht. Wir haben gerade erst geöffnet und obwohl wir eigentlich ein Coffeehouse sind ... “, hier machte sie eine Pause, die von ihrem Gast mit einem wissenden Lächeln quittiert wurde, „ ... kommen die meisten unserer Besucher doch erst später am Abend“. „Gut. Dann möchte ich euch einen Vorschlag machen: Bringt mir einen anständigen walischen Cacao mit einem noch anständigeren Schuss Rum, wählt Euch auf meine Rechnung Euer eigenes Gift und dann gebt mir die Ehre und setzt Euch zu mir und meinem Freund Wilbur hier an den Tisch.“ Womit er wieder auf seinen Farn wies. „Ich besuche euer Haus, wie ihr sicherlich wisst, zum ersten Male und würde es als eine besondere Ehre empfinden, wenn die berühmte Calypso selbst mir etwas über ihr Etablissement erzählen würde.“ „Mesire, normalerweise ...“ „Ach, nun habt Euch doch nicht so – Einen Cacao könnt Ihr doch wohl mit mir trinken ohne das Euer Ruf schaden erleiden wird. Ihr habt im Moment eigentlich nichts zu tun, das habt Ihr selbst gesagt! Und außerdem würdet Ihr Wilbur eine Freude machen. – Also?“ „Na gut – dem Farn zu Liebe.“ „Ha! Ich wusste es doch –Wilburs Charme kann Niemand widerstehen. Und außerdem überbrückt Ihr dadurch sehr charmant die Zeit die Marty braucht um vom Gibbet-Tor wieder zurückzukommen.“ „Marty?“ „Nun, ihr werdet doch wohl wissen, wie Euer eigener Laufbursche heißt, oder nicht?“ fragte er sie mit einem entwaffnenden Grinsen. „Sehr wohl, Mesire“ und damit verschwand sie lachend erneut in Richtung Küche, nur um gleich darauf mit einem weiteren Silbertablett bewaffnet wieder zu erscheinen. Auf dem Tablett befand sich neben einer Kristallkaraffe und einem zierlichen Kristallkelch ein unglasierter Tonbecher mit dampfenden Cacao, dessen aromatischer Duft von ihrem Gast genießerisch eingesogen wurde. „Ah – das ist doch etwas ganz anderes. Und eine richtige, anständige Tasse – nicht dieses unpraktische Silberzeug. Und das hier“, dabei deutete er auf die Karaffe, „ist Euer Gift, nehme ich an?“ „Wenn Ihr so wollt – Aus Fairnessgründen habe ich das gleiche gewählt wie Ihr. Wenn auch ohne Tarnung.“ „Oho!“ „Nicht ganz, Mesire, nicht ganz. Darf ich vorstellen: Ein alter Freund von mir, Yo-Ho!“, und mit diesen Worten nahm sie den Verschluss von der Karaffe und schenkte sich schwungvoll ein, woraufhin sich sofort ein intensives Zuckerrohr-Aroma im Raum zu verbreiten begann. „Bedient Euch, Mesire, jeder sei seines eigenen Glückes Schmied.“ „Holla! Da merkt man doch gleich, dass Eure Wiege nicht auf trockner Scholle stand, Mistress. Eine wohl gewählte Waffe, würdig eines ernsten Gefechtes.“ Sprach’s, und verbeugte sich im Sitzen, wobei er es irgendwie fertig brachte, sowohl elegant und würdevoll sein Barett zu schwenken, als sich auch gleichzeitig mit der freien Hand eine anständige Portion Rum in den Becher zu schütten. „Ja – wie Ihr schon gesagt habt – manchmal ist es notwendig sich daran zu erinnern woher man kommt, und sei es auch nur um zu wissen wer und wo man ist – und warum. Und nennt mich bitte nicht Mistress. Das war ich nicht, und das werde ich auch wohl nie sein.“ „So? Aber soweit ich weiß ...“, wollte der Gast gerade zu einer Entgegnung ansetzen, als mit dem Krachen der auffliegenden Tür ein neuer Protagonist den Schauplatz betrat. “Und du Kleine“, damit deutete er auf Calypso, die aufgesprungen war, „darfst ihn mir bringen!“. Ein breites Grinsen stand im Gesicht des schwarzhaarigen Riesen, der kaum in die Tür zu passen schien. Seine Lederkleidung hatte unzweifelhaft schon bessere Tage gesehen – zudem hatte er vermutlich in ihr genächtigt. Aber die vernarbte Hand, die selbstsicher auf dem Griff seines Stingers ruhte, und die selbstsichere, wenn auch jetzt leicht schwankende Pose, ließen sofort den professionellen Schläger erkennen. Sein Blick fixierte amüsiert die im Vergleich zu ihm schmächtig und jungenhaft wirkende grazile Gestalt Calypsos in ihrem eng anliegenden schwarzen Kleid. „Das heißt, wenn sich hinter der Augenklappe überhaupt was weibliches verbirgt“ Aber noch bevor die erzürnte Coffeehouse-Besitzerin darauf etwas erwidern konnte, mischte sich die schwarze Janine in dieses doch sehr intim zu werden drohende Gespräch ein: „Du solltest dann vielleicht doch eher mit mir Vorlieb nehmen, Großer!“ sprachs, und flankte lässig über die Theke um den Störenfried mit ihrer beeindruckenden Persönlichkeit zu konfrontieren. „Was haben wir denn da?“, fragte der Neuankömmling und versuchte sich auf die neue Situation einzustellen. Es ist schließlich auch in Arabesque nicht an der Tagesordnung, sich plötzlich einer großen, athletisch und äußerst fraulich gebauten Frau in Männerkleidung gegenüberzusehen, die offensichtlichst auf Streit aus ist. „Holla! Das nenn ich mir ein Weib! Bountyful Trickster! Nimm dir ein Beispiel an der, Flachbrett! Mit ihren Dutzeln könnte man ein ganzes Waisenhaus verköstigen!“, rief er zu Calypso gewandt bewundernd aus. Diese Bemerkung trug nicht gerade zur Entspannung der Situation bei. Während Calypsos Gesichtsfarbe sich denn auch dem ausdrucksvollen Teint von Kalk näherte, schien sich die von Janine eher auf ein tiefes Karmesin spezialisieren zu wollen. „Das wird ein Nachmittag, den du nicht so schnell vergessen wirst, Süßer!“ rief sie, und stürzte sich mit wogendem Ausschnitt auf ihn. Mit dem Ausmaß der nun entstehenden Rauferei hatte wohl keiner der beiden Kombattanten von vorneherein gerechnet. Während der schwarzhaarige den Attacken Janines zuerst noch eher geringschätzig gegenüber stand – was ihn ein paar Zähne kostete – änderte sich seine Meinung über seine Gegnerin innerhalb kurzer Zeit grundlegend. Janine hingegen, die diesen besoffenen Rüpel in ihrer Wut einfach ungespitzt in den Boden rammen wollte, musste nach anfänglichen Erfolgen ihren Frontalangriff einstellen, und zwar ungefähr zu dem Zeitpunkt, als ihr Gegner ihr ein Auge mit einer gezielten Gerade kunstvoll schloss. Beide begannen ihren Gegner neu einzuschätzen und umkreisten sich lauernd, beständig Finten und schnelle Angriffe vortragend. Es versprach ein langer, schmutziger Kampf zwischen nahezu gleichwertigen Profis zu werden, in dem derjenige unterliegen würde, dessen Verteidigung und Kraftreserven zuerst zusammenbrechen würden. Nach kurzer Zeit beschloss denn auch einer der beiden nach einer besonders schmerzlich empfunden Nierendublette unfair zu werden. „Maf dif auf waf gefafft, Milfkuh“, nuschelte der Schwarzhaarige, zog einen Short aus dem Stiefel und nahm die gekrümmte Haltung eines professionellen Messerkämpfers ein: „Di’ fneid if die Eute’ ab!“ Janine, die bisher trotz zugeschwollener Augen und einiger anderer Blessuren die Oberhand gehabt hatte, begann in Richtung der Küche zurückzuweichen, wohl um sich ebenfalls zu bewaffnen. Dies verstand ihr Gegner jedoch geschickt zu verhindern, indem er ihr den Weg abschnitt und sie vor sich her in eine Ecke zu treiben suchte, mit ihr spielend, wie ein Kater mit einer gefangenen Maus. Offensichtlich hatte er seine Freude an der Situation und beabsichtigte diese auszukosten um sich für die erlittene Unbill zu entschädigen. Calypso, die sich anfänglich nach dem Einschreiten ihrer Freundin etwas beruhigt hatte, sah sich jetzt jedoch gezwungen etwas zu unternehmen. Sie wusste sehr wohl, wie viele Chancen ein Unbewaffneter gegen einen Bewaffneten hat: nämlich zumeist keine. Aber leider wusste sie auch, dass sie viel zu lange brauchen würde um an den Stinger in ihrem Zimmer zu kommen. Kurz entschlossen wandte sie sich also an ihren Gast im grünen Doublet, der den ganzen Vorgang zu ihrem Ärger und Erstaunen gänzlich ungerührt zu beobachten schien und sagte mit erhobener Stimme: „Hättet Ihr wohl die Güte mir einmal Euren Stock zu leihen, Mesire? Ich muss einen Buben züchtigen.“ Worauf dieser ihr denselben sofort reichte und ebenso laut sagte: „Aber gewiss doch, Medame, er sei Euer!“ Zwar war der Schwarzhaarige auf Janine fixiert, doch konnte ihm dieser laute Wortwechsel nicht entgehen, was wohl auch beabsichtigt war. Zudem glaubte er wohl, die eher schmächtige Calypso schnell abservieren zu können, bevor er sich wieder seiner Hauptbeschäftigung zuwenden würde. Die zierliche Gestalt in ihrem langen schwarzen Kleid sah auch nicht so bedrohlich aus, als sie auf ihn zuging. Wenn sie nicht mit dem Stock bewaffnet gewesen wäre, hätte er sie vermutlich auch einfach ignoriert, als sie mit kleinen und gemessenen Trippelschritten, die ja für Träger enger Kleider so typisch sind, auf ihn zu eilte. „Leg den Ftock weg, Kleine, if befäftige mif späte’ mit di’“, stieß er grinsend hervor und drohte mit dem Short in ihre Richtung: „Wa’te bif du an de’ ’eihe bift!“ „Hör zu, Arschloch!“ – es war erstaunlich zu beobachten, wie sehr ein gut gewähltes Wort doch die Aufmerksamkeit zu fesseln vermag – „Ich geb’ dir genau zehn Herzschläge. Dann bist du entweder draußen ... oder Schweinefutter.“ Zwar war es unzweifelhaft Calypso die da gesprochen hatte, doch hätte man es kaum glauben mögen, lagen doch zwischen dem gesprochenen Wort, und dem Anblick den sie bot, ganze Welten. So erging es auch dem Schwarzhaarigen. „Waf?“ entrang sich seinem offenen Mund. „Zu spät!“ Ihr Rückhandschlag, der dem Riesen wohl wie aus dem Nichts zu kommen schien, zerschmetterte sein Handgelenk und schleuderte seinen Short außer Reichweite. Es war unglaublich, wie schnell sich Calypso bewegen konnte, wenn sie wollte und wie wenig ein Hosenrock doch Ausfallschritte behindert. In solchen Augenblicken wurde man sich bewusst, dass sie nicht immer die Besitzerin eines Coffeehouses gewesen war. Den zweiten Schlag wird der Riese zwar kommen gesehen haben, doch war ihm wohl ein Ausweichen nicht mehr möglich, sonst hätte der Knauf des Stocks ihn nicht zwischen die Augen treffen und sein Nasenbein zertrümmern können. Der abschließende gerade Stoß, der seinen Adamsapfel eindrückte, der sich aufgrund des nach hinten geworfenen Kopfes geradezu als Trefferfläche anbot, war im Vergleich dazu ein schon ein eher leger ausgeführter Coup de Grace. De Facto war er des Todes, noch bevor er auf dem Boden aufschlug. Seine Lungen brauchten jedoch noch eine ganze Weile, bis sie ihr verzweifeltes Bemühen an Luft zu gelangen endgültig einstellten und seine hervortretenden Augen dieser Tatsache Rechnung trugen. Während seines Todeskampfes hatte sich das alte Herrenhaus, das doch vorher eher einem Gladiatorenzirkus denn einem Coffeehouse ähnelte, in ein Stillleben verwandelt. Erst als Calypso nach einem letzten spasmodischen Zucken des Riesen ihr Auge von seinem Leichnam abwandte, löste sich die Spannung. Zurück blieben am Schauplatz des Geschehens Calypso, die sich nicht vom Fleck gerührt hatte, Janine, die sich um die diskrete Beseitigung der sterblichen Überreste des unliebsamen Besuchers verdient zu machen begann, und der Gast im flaschengrünen Doublet, der an seinem Cacao nippte. „Sein Tod scheint Euch nahe zu gehen?“ fragte er und setzte seine Tasse auf dem Silbertablett ab. „Er war ein Dummkopf“, antwortete Calypso. „Er war ziemlich gut. Zu Stolz und zu dumm. Zu gut um es nicht zu wissen, zu stolz um zugeben zu können, dass es bessere geben könnte und zu stur um es einzugestehen. Eine tödliche Kombination.“ „Stolz, Sturheit und mangelnde Kompetenz – das klassische Dreiergestirn.“ „Tja,“ sagte sie, „ein Feigling, ein schlechterer oder aber schlauerer Kämpfer wäre jetzt noch am Leben.“ „Nun, macht Euch nicht allzuviel Gedanken. Ich kannte den Mann.“ Und nach einer Pause fügte er hinzu: „Hättet ihr ihn nicht erwischt, so hätten die Grey Warden ihn doch früher oder später des Seilers Tochter zugeführt.“ „Er wurde gesucht?“ fragte sie. „Wegen Mordes, Vergewaltigung, Raub und ein paar anderen Kleinigkeiten, die mir im Moment entfallen sind. Ja, man könnte durchaus sagen, das er gesucht wurde.“ antwortete er mit einem schmalen Lächeln. „Oh.“ sagte sie und sah dann auf den Stock hinab, den sie immer noch in Händen hielt. „Hervorragende Handwerksarbeit übrigens. Gutes Material. Ein Stock geringerer Qualität wäre zerbrochen. Und er ist schwer ...“ sie schwang ihn hin und her „... könnte fast ein Shipsruler[ix] sein. Hat er einen Silberkern?“ „Nein, das ist eine Spezialanfertigung aus Zedark, einem besonders harten und schwerem Holz aus meiner Heimat, ähnlich der hiesigen Zeder. Und außerdem habt Ihr ganz Recht mit Eurer Einschätzung, Mistress, ...“ „Ich habe Euch schon einmal gesagt, dass ihr mich nicht so nennen sollt“, unterbrach sie ihn. „Ich bin keine Mistress, und werde es auch niemals sein. Diese Zeiten sind ein für alle mal vorbei!“ „Sind sie das?“ fragte er, „Ruft Euch die See denn nicht mehr? Sehnt Ihr Euch nicht mehr danach, auf den Planken eines Schiffes zu stehen und mit vollen Segeln die Wogen zu durchpflügen? Frei zu sein wie ein Vogel?“ „Nein!“ rief sie: „Nie wieder werde ich dem Albatros[x] über die See folgen. Nie wieder!“ und etwas ruhiger: „Was die Freiheit anbelangt, so wisst Ihr nicht wovon Ihr redet. Für mich war diese Weite eine Enge. Ich wollte fliegen und durfte doch nicht. Nein“, sagte sie, und schüttelte den Kopf, „das habe ich mir geschworen: Niemals wieder!“ „Man soll niemals nie sagen, Medame. Wenn ich mich zudem richtig erinnere, habt Ihr das auch so gar nicht geschworen. Sagtet Ihr nicht vielmehr: ‚... werde ich keines Eurer Schiffe mehr betreten und auch keines einer anderen Fleet. Für keines der verlogenen Häuser werde ich fahren und für diesen Schwächling von Kaiser, der sich von der Hood auf der Nase herumtanzen lässt, schon gar nicht.’“ „Holla! Woher wisst Ihr das? Die Verhandlung war nicht öffentlich – von wem seid Ihr geschickt worden?“ Und wie unter einer plötzlichen Eingebung fügte sie hinzu: „Wenn Euer Kommen geplant war – war es dann der Kampf nicht auch? Wenn ja, kann ich nur für Euren Schläger hoffen, das Ihr ihn gut für seine Unannehmlichkeiten bezahlt habt.“ „Ja,“ antwortete er, „das habe ich. Aber wie schon gesagt, das Urteil über ihn war bereits gesprochen: Wenn ihn die Warden erwischt hätten, hätte er am Ende eines Seiles seinen letzten Tanz getanzt – er hatte den Tod mehr als verdient.“ „Das mag sein.“ sagte sie und schaute ihn finster an. „Hier habt ihr Euren Stock zurück, Mesire!“ Und etwas lauter, zur Küche gewandt: „Janine! Unser Gast möchte gehen!“ „Das ist kein Stock“ entgegnete er, und machte keinerlei Anstalten aufzustehen und ihn entgegenzunehmen. „Das ist, wie ihr schon ganz recht vermutet habt, ein Shipsruler!“ sagte er, immer noch bequem in seinem Stuhl sitzend und von der breitschultrigen Riesin, die sich langsam neben ihm aufbaute, scheinbar vollkommen unbeeindruckt. „Er könnte Euch gehören, Medame, wenn Ihr wollt.“ „Was?“ rief Janine, die den Gast vollständig entgeistert anstarrte. „Was?“ entfuhr es Calypso, die den Stab in ihrer Hand anstarrte, als hätte er sich plötzlich in eine Schlange verwandelt. „Ich biete Euch das Kommando über die Sea Witch an, einen dreißiger Rigger.“ „Great Maker! Calypso ...“ rief Janine aus und sah ihre Partnerin flehentlich an. „Nein – ich fahre für keine Fleet mehr.“ beschied diese energisch. „Schön – und ich repräsentiere keine Fleet“ antwortete der Gast. „Und erst Recht für kein House!“ „Und auch kein House“ bestätige der Gast. „Und wenn Ihr einwilligt für mich zu fahren, werdet Ihr die wenigste Zeit auf dem Binnenmeer verbringen.“ „Ich bin kein Flussschiffer, Mesire!“ wehrte da Calypso geringschätzig ab. „Oho! Verachtet mir die Flussschiffer nicht. Einen Fluss zu befahren ist nicht minder schwierig, als die hohe See zu meistern!“ antwortete ihr der Gast. „Wie auch immer.“ sagte Calypso mit fester Stimme. „Ich bin kein Flussschiffer – ich bin Seefahrer! Ich brauche das Meer und ... die Freiheit. Könnt Ihr mir das nicht geben, muss ich bedauern, Mesire!“ „Calypso!“ rang Janine verzweifelt die Hände. „Sei ruhig, Janine. Es ist besser aufrecht an Land zu leben, als seine Würde zu verlieren“ wies sie ihre Gefährtin zurecht. „Nun, ich bewundere eure Kompromissbereitschaft“ sprach der Gast mit einem ironischen Lächeln und nahm seine Tasse wieder auf. „Aber ihr habt mich missverstanden.“ Lächelnd fuhr er mit dem Finger um den oberen Rand der Tasse. „Ihr sollt für mich nicht den Oneiros unsicher machen. Euer Jagdgebiet wird der Ewige Ozean sein!“ „The Trickster!“ stieß Janine entgeistert aus und pfiff durch die Zähne. „Wisst ihr überhaupt, was ihr da sagt?“ fragte Calypso: „Ihr stellt Euch gegen die Hood[xi]!“ Der Fremde zuckte nur mit den Schultern und trank den Rest seines Cacaos. „Ihr müsst entweder ein Ausländer oder aber vollständig verrückt sein!“ „Ich wurde nicht in Greenland geboren, falls ihr das meint.“ antwortete er lächelnd, „aber ich bin mittlerweile sozusagen eingebürgert worden und betrachte dieses Land als meine neue Heimat. Man hat mich adoptiert, wisst ihr.“ „Wen repräsentiert ihr, Mesire? Wer steht hinter Euch?“ „That would be telling, wouldn’t it?” wich er ihrer Frage aus. „Es muss Euch genügen, dass ich Euch einen Rigger anbiete. Die Hood lasst meine Sorge sein. Ihr führt das Schiff, ich kümmere mich um den Rest – dafür sind Wayfinder doch da, oder nicht?“ „Na, zu einem Wayfinder gehört noch einiges mehr, als nur ein Schiff und Bravado zu besitzen.“ „Mistress, damit wir uns recht verstehen: Den Rigger könnt Ihr nur im Doppelpack zusammen mit mir bekommen. Von der eigentlichen Schiffsführung verstehe ich recht wenig, da habt Ihr recht. Aber seid doch mal ehrlich: Wollt Ihr einen Wayfinder, der Euch ständig Vorschläge macht, wie Ihr Euer Schiff zu führen habt? Es genügt doch wohl, wenn ich Euch sage wohin ich will – und wie Ihr dahin kommen könnt!“ „Was wollt Ihr damit sagen?“ fragte sie. „Nun, die Seawitch liegt momentan noch in einem versteckten Bayou des Oneiros hier in der Nähe.“ „Und?“ „Ist das nicht offensichtlich? Ich kann Euch zeigen, wie Ihr mit dem Rigger in den Endlosen Ozean gelangen könnt!“ „Ha!“ rief sie mit triumphierender Stimme „Hast du das gehört, Janine? Ich wusste es! Das Geschmeiß der grauen Flotte[xii] kennt einen Weg hinaus und hält ihn geheim. Diese Duckmäuser!“ Und ihrem Gast wieder zugewandt: „Die Passage führt durch die Länder der Nitwitts, stimmt’s?“ „Nun“ antwortete er, „Solange Ihr Euch nicht entschieden habt, Medame, kann ich Euch das nicht verraten - das versteht Ihr sicher. Aber soviel sei gesagt: Ihr schmäht die Graue Flotte grundlos. Meines Wissens nach weiß sie von keiner Passage.“ „Nun, sagen wir: Ich bin interessiert. Rein hypothetisch natürlich.“ Allein schon ihrem Ton konnte man entnehmen, dass die Entscheidung eigentlich bereits gefallen war. „Als Ships-Mistress?“ „Ja“ nickte er bestätigtend. „Mit dem üblichen Anteil an Ladung und Gewinn?“ „Ja“ antwortete er, und zu Janine gewandt: „Wie übrigens jeder andere der Besatzung auch.“ „Oh!“ sagten beide erstaunt. „Und die Besatzung? Mit Lumpengesindel fahre ich nicht.“ „Nun, um ehrlich zu sein ...“ hier zögerte der Mann etwas, „Ich dachte mir eigentlich, dass Ihr es vorziehen würdet, Euch die Leute mit denen Ihr zusammenarbeiten müsst selbst auszusuchen.“ „Ah, gut!“ sagte sie erleichtert. „Nur ein paar Leute werde ich mir zu bestimmen vorbehalten.“ „Wen?“, fragte sie sofort misstrauisch. „Natürlich den Paymaster, damit ihr die Kontrolle über die Güter und den Gewinn habt?“ Woraufhin er für sie überraschenderweise ziemlich indigniert antwortete: „Natürlich nicht! Aber Healer, Shipswright, Shipswarden und mein persönlicher Steward[xiii] werden von mir bestallt.“ „Gegen den Healer und den Steward erhebe ich keinerlei Einwände, aber den Shipswright würde ich lieber selbst aussuchen und als Shipswarden gedachte ich eigentlich Janine einzusetzen.“ „Medame, sie hat das Schiff mitgebaut und kennt es in und auswendig – einen besseren Shipswright könnt ihr also gar nicht finden.“ „Oh – na gut.“ „Was den Posten des Shipswarden anbelangt, so würde ich den Vorschlag machen, diese Diskussion besser zurückzustellen, bis ihr meinen Kandidaten gesehen habt. Falls ihr und Janine dann immer noch wünscht, diesen Posten anderweitig zu belegen, werde ich mich damit zufrieden geben, wenn Ihr ihn als Bosun akzeptiert.“ Und nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: „Wir könnten natürlich auch einen Wettkampf abhalten ...“ „Gemacht!“ warf Janine ein, die sich scheinbar von ihrem vorangegangen Kampf bereits wieder erholt hatte und offensichtlich noch unter einem starken Überschuss Adrenalin litt. „Aber ohne Waffen und nach den klassischen Regeln des Knights of Empressbury![xiv]“, machte Calypso zur Bedingung. „Das ist nicht fair ...“ wollte der Gast einwenden, wurde aber von Calypso sofort unterbrochen: „Rubbish! Jede vorgeschlagene Waffe würde einem der beiden Kämpfer Vorteile bieten, weil er sie besser oder schlechter als der andere beherrscht. Außerdem will ich keine Verletzten an Bord, nicht schon vor dem Beginn einer Reise, und in einem bewaffneten Kampf kann das leicht vorkommen.“ „Na gut!“ seufzte er, „Wenn Ihr es so wollt. Und Ihr meint wirklich, dass es eine gute Idee ist, den Posten des Shipswarden durch einen Faustkampf zu vergeben?“ „Ja!“ Und nach einem Blick auf die breit grinsende Janine: „dieser Meinung bin ich.“ „Na schön, mir soll es recht sein.“ entgegneter er, „Und der Verlierer wird Bosun?“ „Wenn er über die notwendigen Kenntnisse verfügt – meinetwegen.“ „Dies zu beurteilen überlasse ich selbstverständlich Euch, Medame.“ sagte er amüsiert, und fragte dann: „Nehmt Ihr jetzt mein Angebot an?“ „Hmm.“ zögerte sie wiederum, „Ihr wollt wirklich nicht den Paymaster bestimmen?“ „Nein,“ antwortete er etwas genervt, „wirklich nicht!“ „Das macht mich misstrauisch. Wie wollt Ihr mich dann überwachen? Ich könnte Euch so übervorteilen, dass Ihr ständig glaubt ruiniert zu sein und mache trotzdem die besten Geschäfte, auch ohne dass Navigator oder Heiler etwas mitkriegen. Und selbst wenn Ihr das herausfinden würdet – wie wolltet Ihr mich je wieder einfangen? Wenn ich erst einmal unterwegs bin, müsstet Ihr Euch der Schwingen des Windes bedienen können, um mich einzuholen“ „Wie poetisch!“ „Poesie hin oder her – so ist es nun einmal. Also: Wenn schon nicht der Paymaster, so müsst Ihr eine andere Kontrolle über mich haben wollen. Erwartet Ihr ein Bonding?“ „Nein, mir genügt Euer Wort.“ „Verzeiht, Mesire, aber das ist unvernünftig. Niemand bei klarem Verstand vertraut einer Unbekannten ein teures Schiff an, ohne Sicherheiten zu haben. Und, ich gebe mich keinen Illusionen hin, das Coffeehouse ist nicht annähernd soviel Wert wie selbst der kleinste Rigger. Wo also, frage ich mich, ist der Haken?“ „Misstress Calypso ...“ „Noch habe ich kein Recht auf diesen Titel!“ „Calypso – selbstverständlich werfe ich euch keine Unsummen in den Rachen ohne gewisse Garantien. Glaubt mir, eine Unbekannte seid Ihr keineswegs für mich. Ich kenne jedes Wort, das Ihr damals in jener Kammer der Pride of Blue zum Femegericht gesagt habt – ja, ich weiß auch über dieses geheime Gericht bescheid. Ich weiß, warum Ihr und Janine gegangen worden seid und ich sage Euch: Es ist mir egal, was meine Leute in Ihrer Freizeit tun. Und ich garantiere Euch, wenn Ihr mich hintergeht, komme ich Euch persönlich holen und schäle Euch das Fleisch von den Knochen! Wo immer Ihr auch seid. Wo auch immer! Genügt Euch das?“ „Ihr wollt mir zart andeuten, dass es mich verdammt noch mal nichts angeht, oder?“ „Ich will euch sagen, dass ich Euch kenne, vielleicht besser als Ihr selbst und das ich Euch vertraue. Ich verlange nicht, dass Ihr einen Vertrag mit Blut unterzeichnet und ich erwarte auch kein von einem Veiled gewirktes Bonding. Ich will Euch. Ich will Euer Wort, dass Ihr mir ehrlich dienen werdet, und mir so lange folgen werdet, wie auch ich Euch die Treue halte und Euch nicht hintergehe. Fair?“ „Hmm.“ „Und außerdem habt Ihr recht – es geht euch nichts an. Seht in mir doch einfach euren neuen Wayfinder. Von mir erhaltet Ihr Eure Aufträge, von mir bekommt Ihr ein Schiff, und manchmal begleite ich euch sogar auf einer Fahrt. Ihr habt doch nicht gedacht, dass ich Euch das Schiff schenken will, oder? „Selbstverständlich nicht – leider.“ „Ich kann Euer Zögern verstehen. Es ist schwer einem offensichtlich verrückten Fremden zu vertrauen.“ „Oh, das ist es nicht.“ entgegnete sie, „Ihr sei nicht verrückt, nur exzentrisch. Mit anderen Worten: Ihr könnt dafür bezahlen. Das lässt mich nicht zögern. Aber ich weiß weder wer Ihr seid, noch wen Ihr repräsentiert, Mesire.“ „Wen ich repräsentiere? Wie ich schon gesagt habe – ich repräsentiere die, die Euch einen dreißiger Rigger überlassen wollen und falls Euch das nicht genügen sollte: Am Ende Eurer ersten Fahrt werdet Ihr erfahren wer das ist. Das andere Versäumnis lässt sich aber jetzt schon nachholen.“ Und damit stand er auf und verbeugte sich schwungvoll, sein Barett schwenkend: „Mein Name ist Cato.“ „Cato wer?“ „Einfach nur Cato, Medame. Es sollte mich wundern, wenn es noch einen zweiten dieses Namens in Enigma geben sollte, also könntet Ihr, wenn Ihr unbedingt wollt, genauso gut noch ein hochherrschaftliches ‚of Enigma’ dranhängen. Und nun, da wir alle offenen Fragen geklärt haben – wann könnt Ihr aufbrechen?“ „Halt, halt!“ warf da Janine ein, „Nicht so schnell! Wir brauchen Zeit um die Mannschaft zusammenzusuchen. Gerade jetzt liegen zwar viele Rigger im Hafen, aber es brauch schon etwas Zeit um eine gute Crew anzuheuern. Wie viele werden wir überhaupt brauchen?“ „Nun“ antwortete er ihr zugewandt, „man hat mir gesagt, dass die Sea Witch mit 35 Hands auskommt, und da die Jungfernfahrt des Schiffes in zwei Wochen erst einmal nur ins Binnenmeer zu einem Rendezvous gehen soll, wird das ja wohl auch genügen.“ „Das stimmt“ pflichtete ihm Calypso bei, „aber wir werden wohl trotzdem nicht darum herum kommen, den ein oder anderen Lander anzuheuern – wenn wir überhaupt so viele Hands in diesen zwei Wochen zusammenbekommen werden. Und das kostet Geld ...“ „Dafür ist gesorgt.“ Und damit langte er in seinen Seash und zog ein kleines Samtsäckchen heraus, dessen Inhalt er auf den Tisch leerte. „Perlen[xv] der besten Qualität aus Devon. Ich glaube, Ihr dürftet keine Schwierigkeiten haben für ein solches Handgeld Leute zu finden.“ „Seid Ihr von Sinnen?“ rief Janine aus, entgeistert auf die Perlen starrend. „Janine!“ tadelte sie Calypso, „Du beleidigst unseren neuen Wayfinder!“ betrachtete aber ebenfalls den Perlenhaufen auf dem Tisch kopfschüttelnd. „Wie oft soll ich es dir noch sagen: Er ist nicht verrückt, er ist exzentrisch.“ Und wieder dem Gast zugewandt sagte sie. „Damit bekommt Ihr die Besten der Besten. Gestern. Drei Mal.“ „Das will ich hoffen.“ „Tja – dann muss ich wohl nur noch einen Käufer für mein Coffeehouse finden, aber auch das brauch seine Zeit – oder habt Ihr dafür etwa auch schon eine Lösung?“ „Oh, wenn's weiter nichts ist. Habe ich erwähnt, dass ich solche Etablissements sammle? Ein Coffeehouse fehlt mir noch in meiner Kollektion. Gebt Ihr's mir auf Kredit?“ „Ich habe mich geirrt: Ihr seid nicht exzentrisch – Ihr seid verrückt!“
[i] Es ist zwar richtig, dass es in direkter Nähe der Docks von billigen Kneipen und einschlägigen Häusern nur so wimmelt. Auch das Farer bunt gekleidet sind, ein unstetes Leben führen und normalerweise auf dem Landgang in alkoholischen und anderen Exzessen geradezu versinken, entspricht der Wahrheit. Daraus aber auf einen generell lasterhaften und leichtfertigen Lebenswandel schließen zu wollen, ist grundfalsch. Ihr Leben ist eigentlich sogar viel strengeren Reglements unterworfen, als das der meisten Landbewohner. Da auf einem Rigger viele Leute über Jahre und Generation hinweg auf kleinstem Raum miteinander leben und aufeinander angewiesen sind, ergibt sich das zwangsläufig. Höflichkeit, Sittsamkeit, gegenseitiger Respekt und ein rigider Moralkodex sind die Überlebensgrundlagen dieser seefahrenden Nomadenkultur, die große Teile der Freiheit des Einzelnen für die Freiheit der Gemeinschaft aufgegeben hat. Viele Farer halten im Gegenteil die Lander für ein verweichlichtes und liederliches Volk, das sich vollständig dem Laster ergeben hat. Auch dies kann nicht verwundern, bedenkt man, dass ein Seefahrer auf Landgang normalerweise nur fette Händler, feiste Wirtsleute, zweifelhafte Entrepreneurs und noch zwielichtigere Gestalten trifft – wie will er da einen Eindruck vom normalen Leben eines Landbewohners bekommen? [ii] das Kennzeichnen aller Wirtshäuser und Gaststätten [iii] ¾ des Tages sind vorbei, also in der Mitte des Nachmittages [iv] das Flagschiff der Blauen Flotte [v] Dem Vernehmen nach mussten die beiden wohl auch auf Grund dieser, für die Farer ungehörigen, Partnerschaft, ihren Abschied nehmen, und nicht, wie Calypso allerdings immer behauptet, auf Grund des Verlustes ihres rechten Auges. Dies hatte ihr eigentlich nur das Tragen einer romantischen Augenklappe ermöglicht und den Beinamen „of the Eye“ eingebracht. Da aber eine derart weltoffene Stadt wie Arabesque noch ganz andere Dinge nahezu täglich unter den Teppich zu kehren pflegt, trug dieses Gerücht eher noch zum wild romantischen Ruf des Coffehouses bei. [vi] Eine Art Matrosenvormann [vii] Das Gibbet-Tor befindet sich kurioserweise nicht in der Stadtmauer, sondern mitten in der Stadt inmitten der Wallstreet. Dort wurde es gemäß den Anweisungen im letzten Willen von T.B. Gibbet, einem sehr reichen Legasthenikers erbaut. [viii] An dieser Stelle wäre vielleicht eine Beschreibung des Geschmacks von gybalischem Cacao angebracht. Vielleicht aber auch besser nicht. [ix] Kommandostab eines Kapitäns, quasi ein Szepter das auch als Schlagstock Verwendung findet. [x] Zufällig der Spirit der blauen Flotte [xi] Genaueres würde zu weit führen. Es sollte genügen anzumerken, dass nach einem Edikt der Hood kein Rigger Greenlands jemals das Binnenmeer verlassen darf. [xii] Die Graue Flotte ist die Flotte des Kaisers [xiii] Bordarzt, Schiffszimmermann, Führer im Kampf und Mann für alles [xiv] In der Hauptsache: Keine Schläge unter die Gürtellinie oder auf gefallene Gegner. Kratzen, Beißen, an den Haaren ziehen und spucken sind ebenfalls verboten, weshalb diese Regel von Frauen zumeist als unfair angesehen wird. [xv] Kleine Schmutzteilchen umgeben von verhärteter Muschelkotze. |
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